Ein großes Geschäft mit Entführungen

Heute seien Spezialisten für die gesamte Krisenbewältigung nach einer Entführung zuständig, von der Pflege der Angehörigen bis zu den Verhandlungen mit den Entführern, von der Einschätzung der angemessenen Rettungssumme bis zur Zusammenarbeit mit der Polizei, heißt es auf der wissenschaftlichen Website Die Unterhaltung. Entführungsexperten bewegen sich manchmal in einer Grauzone.

Laut dem britischen Guardian haben verschiedene Länder unterschiedliche Ansätze im Umgang mit der Entführung ihrer Staatsangehörigen verfolgt. Großbritannien gehört neben den USA seit langem zu den Vertretern des “no concessions”-Lagers, das sich offiziell weigert, mit Terroristen zu verhandeln, Lösegeld zu zahlen oder sonstige Zugeständnisse zu machen. Es wird befürchtet, dass die Zahlung eines Lösegelds das Risiko zukünftiger Entführungen erhöht. Zudem würde das Geld auch in die Hände von Terrororganisationen gelangen, die laufende Operationen finanzieren könnten, so die Begründung.

AP / Kurt Strumpf Ein Schnitt in West-Berlin 1975 nach der Entführung des Berliner CDU-Landesvorsitzenden Peter Lorenz durch die Terrorgruppe Bewegung am 2. Juni

Auf der Suche nach neuen Kunden im Drogenkrieg

Das große Entführungsversicherungsgeschäft begann laut The Guardian im Jahr 1982. Der britische Versicherungsmakler Doug Milne war auf der Suche nach neuen Kunden und wartete idealerweise auch auf ein neues Geschäftsfeld.

Milne ging mit geringen Spanischkenntnissen und nur zwei Kontakten in die kolumbianische Hauptstadt Bogota und wurde Zeuge des Beginns des blutigen Drogenkrieges zwischen denselben Kartellen und mit der kolumbianischen Polizei und Armee. Entführungen waren in dem teilweise fast kriegerischen Konflikt mehr oder weniger an der Tagesordnung.

Reuters Im Jahr 2010 nahm ein Konvoi die Geiseln Paul und Rachel Chandler zum Flughafen, die nach mehr als einem Jahr von somalischen Piraten freigelassen wurden.

Erste Ideen nach Lindberghs Entführung

Zwar bestand zu diesem Zeitpunkt bereits eine Versicherung gegen die Entführung, diese war jedoch praktisch unbekannt. Die ersten Entführungs- und Rettungsversicherungspolicen wurden laut New York Review of Books 1932 ausgestellt. Es wurde nach Lindberghs sensationeller Entführung „erfunden“, die die Weltpresse monatelang in Atem hielt.

Der Sohn des AP-Piloten Charles Lindbergh dreht sich in seinem Kinderwagen

Pilot Charles Lindbergh hatte mit dem ersten Nonstop-Flug von den USA über den Atlantik nach Frankreich Weltruhm erlangt. In den Vereinigten Staaten als Nationalheld gehalten, wurde Lindbergh in den 1940er Jahren für seine politischen Ansichten und Reden als Sympathisant der Nazis und Antisemiten kritisiert, aber schon vorher nahm sein Leben eine tragische Wendung. Ihr zweijähriger Sohn wurde am 1. März 1932 entführt und Lösegeld gezahlt. Am 12. Mai wurde der Junge schließlich tot aufgefunden.

Entführungswelle in den 60er Jahren

Ein echter Verkaufsschlager waren die neuen Entführungsversicherungen allerdings nicht. Erst in den 1960er Jahren, nach einer Reihe aufsehenerregender Entführungen von Arbeitgebern und ihren Familien in Europa und Lateinamerika, begannen Unternehmen, diese Art von Versicherungen für hochrangige Mitarbeiter und ihre Familien abzuschließen. Neben der Mafia in Europa waren vor allem terroristische Organisationen wie die spanische ETA, die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland und die Roten Brigaden in Italien für die Entführungen verantwortlich.

Reuters / US Navy Die US Navy versorgt das von Piraten gekaperte Frachtschiff „Faina“ nach seiner Freilassung im Jahr 2009 für vier Monate vor der Küste Somalias mit Treibstoff und Wasser.

Die Geheimhaltungsklausel soll das Risiko minimieren

Diese Art der Entführungsversicherung hatte einen großen Fehler, wie die New York Review of Books schreibt. Die Versicherer beteiligten sich nicht am Verhandlungsprozess. Versicherungen hatten damals nur eine Aufgabe: das Lösegeld zu erstatten.

Es gab jedoch einige Bedingungen, die von den Versicherungsunternehmen auferlegt wurden. Die Police musste geheim gehalten werden, um das Risiko einer Entführung nicht zu erhöhen. Laut The Guardian wurde auch befürchtet, dass die Entführer weitere Rettungspakete fordern würden, wenn sie von der Politik wüssten.

Angehörige mussten noch selbst verhandeln

Wenn Entführungen lukrativer wären, wurde auch befürchtet, dass die Zahl der Entführungen zunehmen würde. Es sollte auch verhindert werden, dass bereits entführte Menschen aufgrund der hohen Rettung erneut entführt werden. Ein weiterer Versicherungsgrundsatz: Die Rettung wird nicht vorangetrieben.

Nachteile für die Versicherten: Ihre Angehörigen oder Mitarbeiter der Firmen, für die sie tätig waren, mussten bis zur Rettung mit der Polizei verhandeln und waren meist überfordert.

Setzen Sie auf Professionalität mit Full-Service

Eine Lösung dafür fand sich schließlich in den 1970er Jahren. Laut New York Review of Books hatte ein junger Versicherungsmakler, Julian Radcliff, die brillante Idee: Es wurde eine auf Entführungsfälle spezialisierte Sicherheitsfirma benötigt. Zunächst als Lloyds-Abteilung, dann als eigenständiges Unternehmen stellten die Spezialisten von Control Risks den Opfern das nötige Fachwissen zur Verfügung, um die Entführungsfälle bestmöglich zu bearbeiten. Die Experten wurden hauptsächlich aus den Reihen der Armee und der Polizei rekrutiert und basierten auf ihren bisherigen Erfahrungen.

Potenzielle Opfer werden ebenfalls überprüft

Und auch in der Kundenakzeptanz wurden die Änderungen umgesetzt. Mit Zustimmung der zukünftigen Versicherungsnehmer wurden potenzielle Entführungsopfer im Geheimen sorgfältig überwacht und Sicherheitsmaßnahmen vorgeschlagen. Wurden sie umgesetzt, wurden zum Beispiel Sicherheitskräfte eingestellt, die Häuser besser versichert und die Versicherungen ebenfalls mit Prämienrabatten gelockt.

Auch das Management im Entführungsfall wurde erneuert. Spezialisten berieten daraufhin die Familien oder Arbeitgeber der Entführungsopfer. Denn sie mussten mit den Entführern in Kontakt bleiben, sonst hätten die Entführer Wind von der Versicherung bekommen und hätten ihre Forderungen erhöhen können. Sobald die Rettung arrangiert war, übergaben ihn die Profis und im Idealfall wurde die Geisel gesund und munter zurückgebracht.

Kurse für richtiges Verhalten als Innovation

Schließlich sah sich Control Risks der Konkurrenz aus den Vereinigten Staaten gegenüber. Ein ehemaliger CIA-Agent, Mike Ackerman, gründete seine eigene Firma; Im Gegensatz zu Control Risks, das über mehr Mitarbeiter verfügte, machte er laut New York Review of Books fast alles selbst. Er verhandelte auch mit den Entführern als angeblicher Verwandter oder Kopf des Opfers und überreichte das Lösegeld.

Schließlich ging Milne, der Anfang der 1980er Jahre sein Entführungsgeschäft von Kolumbien aus auf ganz Lateinamerika ausdehnte, nach London und baute mit seinem Fachwissen und zahlreichen Mitarbeitern mit Berufserfahrung in Polizei und Armee auch eine Niederlassung in Europa auf. Seine Innovation: Er bot Kurse an, um das Entführungsrisiko zu minimieren, und lehrte auch, wie sich ein Opfer im Ernstfall gegenüber seinen Entführern verhalten sollte.

75 Prozent der Fortune-500-Unternehmen sind versichert

Er hat schließlich Versicherungsgesellschaften dazu gebracht, die Kosten ihrer Kurse zu übernehmen, weil potenzielle Opfer und Versicherungsgesellschaften ein Interesse daran haben, die Wahrscheinlichkeit einer Entführung zu minimieren, wie The Guardian schreibt. Laut der Zeitung haben 75 Prozent der Fortune-500-Unternehmen diese Versicherung für gefährdete Mitarbeiter. Zwei Versicherer, Hiscox in Großbritannien und AIG in den USA, geben derzeit in der Branche den Ton an, sagte er. Viele Sicherheitsunternehmen haben sich aber auch auf Entführungsfälle spezialisiert.

Laut The Guardian sind Geiselverhandlungen bereits zu einer Art Industrie geworden, einschließlich gemeinsamer Konferenzen, Konventionen und Strategien sowie Lobbyarbeit für staatliche Vorschriften. Das Wichtigste ist die Vertraulichkeit. Damit soll die Rettungsaktion so gering wie möglich und das kriminelle Geschäft möglichst profitabel werden, wie die Washington Post schreibt. Der Zeitung zufolge gelten Nigeria, Mexiko, Irak, Mali und Kolumbien als “Hot Spots” von Entführungen.

Gute Überlebenschancen

Laut der Zeitung ist der Erfolg der Branche beeindruckend. 97 Prozent der Entführungen mit professionellen Verhandlungsführern werden erfolgreich durch die Zahlung eines Lösegelds gelöst. Einem kleinen Prozentsatz der Opfer gelingt die Flucht, nur wenige müssen in kostspieligen und risikoreichen Operationen aus den Händen ihrer Entführer gerettet werden.

Weniger als 1 Prozent der Opfer sterben laut The Guardian unter Berufung auf Branchenzahlen. Laut New York Review of Books würden nicht versicherte Personen Verhandlungsführer bei Geiselnahmen bis zu 2.000 US-Dollar pro Tag kosten. Das Magazin schätzt, dass der Umsatz in der Branche zwischen 250 und 300 Millionen pro Jahr liegt.

Leave a Comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *